Kein Mensch ist ein Einzelgänger. Wir wachsen in Familien auf, gründen eigene, leben in Nachbarschaften, Freundeskreisen, sind vertraut mit Kollegen, Vereinsmitgliedern, schließen uns zu Dörfern, Städten, Landkreisen und Nationen zusammen. Wir Menschen sind gesellige Wesen, Gemeinschaftsmenschen. Jeder hat seine oder ihre Art von Community: Menschen mit denen er oder sie das eigene Leben teilt, in welcher Form und Tiefe auch immer.
Seit mittlerweile einigen Jahrzehnten gibt es zusätzlich zur kohlenstofflichen Wirklichkeit, gibt es seit ungefähr drei Jahrzehnten für fast jeden in Deutschland verfügbar auch die virtuelle Wirklichkeit. Und kaum war sie entstanden, begegneten sich hier Menschen und schloss sich zu Communities zusammen. Ob in Mailinglisten, Chats, Foren oder Messenger-Diensten. Auch im Internet, im digitalen Raum, sind wir Menschen gesellige Gemeinschaftswesen.
2018 waren laut Umfragen rund 84% der Einwohner in Deutschland täglich im Internet unterwegs. (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/165284/umfrage/anteil-der-taeglichen-internetnutzer-in-deutschland-seit-2000/)
Die Mehrheit dieser Internetnutzer ist regelmäßig im Netz unterwegs. 34% sagen von sich, sie wären „eigentlich immer online“. 57% sind „regelmäßig online“. Von den Menschen bis 54 Jahren, sagen immerhin 90%, dass sie mindestens regelmäßig online sind. Das Smartphone ist dabei das am meisten genutzte Werkzeug im Datenverkehr. 77% sagen, sie nutzen mindestens regelmäßig das Smartphone, um sich online zu bewegen. Über den Laptop sagen das nur 64%, zum Desktop-PC nur 31%. 90% der Internetnutzer kommunizieren über Messenger-Dienste wie WhatsApp oder FB-Messenger. 89% nutzen Social-Media-Portale. 79% vernetzen sich untereinander via Blogs oder Communities.
(Quelle: https://www.bvdw.org/fileadmin/user_upload/BVDW_Marktforschung_Digitale_Nutzung_in_Deutschland_2018.pdf)
Allein an diesen wenigen Zahlen lässt sich gut die Bedeutung des Digitalen Raumes für uns Menschen heutzutage ablesen. Und wir kennen es auch aus der eigenen Erfahrung. Kaum eine Pause, die nicht zum Abrufen von Email, Nachrichten oder Surfen genutzt wird. Das Internet und mit ihm das Smartphone ist unser ständiger Begleiter in unmittelbarer Nähe, meistens direkt am Körper. Wir sind Online-Menschen geworden, zu Hause auch im Digitalen Raum, im virtuellen, der keineswegs weniger real ist, als die Welt „da draußen“. Und im Digitalen Raum passiert das, was auch im Offline-Raum geschieht, Menschen finden sich, vernetzen sich, tauschen sich aus, trauern, lachen, weinen, vereinbaren Termine, planen die Arbeit und den Urlaub – sie leben ihr Leben. So, als wenn es nie ein Leben ohne das Smartphone gegeben hätte.
Wenn die Wirklichkeit so ist und Menschen das Internet so nutzen, was bedeutet das dann für uns als Kirche, besonders für die Seelsorge und Beratung? Folgende Schlussfolgerung fand ich treffend:
Im Interview mit DOMRADIO.DE sagte Jens Albers (stellvertretender Pressesprecher und Social-Media-Manager im Bistum Essen): Social Media ist bei uns im Bistum Essen etwas, das die Menschen ganz alltäglich nutzen. Und wir als Kirche nutzen diese Kanäle deswegen auch alltäglich. Wir wollen damit in Kontakt mit den Menschen kommen und wenn der Kontakt gelingt, können wir in den Dialog treten. Dann haben wir die Möglichkeit, vielleicht auch so etwas wiederherzustellen wie Bindung. Ich glaube gerade in den heutigen Zeiten ist es extrem wichtig, dass man Menschen wieder die Möglichkeit bietet, einen Erstkontakt mit uns herzustellen. Dafür eignen sich diese Kanäle in unseren Augen ganz wunderbar.
(Quelle: https://www.domradio.de/themen/bist%C3%BCmer/2019-10-02/soziale-medien-fuer-kirche-und-gemeindeleben-wichtig)
Weil Menschen im Internet sind, sind auch wir als Kirche im Internet. Weil Menschen in den Sozialen Medien unterwegs sind, wollen auch wir als Kirche dort sein, besonders mit unseren seelsorgerlichen und beratenden Angeboten. Weil Menschen im Digitalen Raum leben, wollen auch wir als Kirche dort leben. Erst einmal, weil Kirche von Menschen gelebt wird und wo diese Menschen sich aufhalten auch Kirche ist. Zweitens aber auch, weil wir als Kirche mit den Menschen im Digitalen Raum in Kontakt treten wollen, weil wir den Anschluss nicht verlieren möchten. Und weil wir Gottes Bewegung zur Welt, zum Menschen jeden Tag aufs Neue der Welt vorstellen möchten.
Gott ist immer auf dem Weg zum Menschen. Also ist es Kirche auch.
Mit einigen wenigen Bibelstellen möchte ich das exemplarisch zeigen:
Gott ist ein Seelsorger. „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes 66,13)
Jesus hat die Menschen da aufgesucht, wo sie waren. Geographisch, biografisch. Und er hat sich nach dem erkundigt, was sie jetzt und hier brauchen: „Was kann ich für dich tun?“ (Mk 10,51)
Jesus hat für Vernetzung gesorgt. Er hat die Ausgestoßenen zurück in die Gemeinschaft geführt. Sie sich neu anbinden (man könnte auch sagen „einloggen“) lassen. Und fordert uns auf, es ihm gleichzutun: „Geh und mach es genauso!“ (Lk 10,37)
Denn: „Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. … Was ihr für einen meiner geringsten Brüder oder für eine meiner geringsten Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan.“ (Mt 25,35ff.)
Jesu Aufforderung an Petrus „Wirf dein Netz aus!“ (Lk 5) ist sinnbildlich für seine Art und Weise mit den Menschen umzugehen. Jesus hat selbst immer wieder seine Netze ausgeworfen. Kontinuierlich hat er seine Augen schweifen lassen, in Ausschau nach denen, die am Rande standen, ausgegrenzt, allein, übersehen, beschuldigt, schuldig, abgeschnitten… Er hat ihnen Würde geschenkt, sie zurückgegeben und die Menschen aufgerichtet. Ihnen wieder einen Platz in der Gemeinschaft ermöglicht. Leben ermöglicht.
„Wirf dein Netz aus!“ – eine schöne Aufforderung auch für uns als Kirche im Internet! Und erst Recht für Seelsorge und Beratung im Internet.
Und es passiert ja auch längst:
1995 startete Pfarrer Jakob Vetsch in der Schweiz das Angebot „https://www.seelsorge.net/de/“ und erlebte:
„Da kommt vieles rüber an Gefühlen, an Menschlichem. Sehen und hören tun wir uns zwar nicht. Dafür spielt so manches eine kleinere Rolle, was im Gespräch trennend wirken könnte: Das Eintreten in ein Amtshaus, die Kleidung, der Rang. Vielen ist allein schon dadurch geholfen, dass sie ihre Probleme schriftlich formuliert haben. Diejenigen, die längerfristig Begleitung und Hilfe brauchen, können aber auch an Seelsorger oder Beratungsstellen vor Ort vermittelt werden, wenn sie dies wünschen. (Quelle: https://archiv.ekd.de/newsletter/news17.html)
Seit 2003 gibt es in der Landeskirche Hannovers die Chatseelsorge (https://chatseelsorge.evlka.de). Und natürlich schon längst die Telefonseelsorge, die ebenfalls eine Email- und Chatberatung anbietet und diese seit kurzem auch technisch aktualisiert hat. Leider fehlt es dringend an ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern.
Die Evangelische Medienarbeit der Landeskirche Hannovers und der EKD produzieren regelmäßig qualitativ hochwertige Bilder verbunden mit Tagesgebeten, Bibelworten und ermutigenden Zitaten. Ein toller Kontaktpunkt für viele Menschen mit ihrer Kirche. Ein Zeichen der Erreichbarkeit und Nähe.
Auch andere Kirchen machen gute Erfahrungen im Digitalen Raum.
Die Church of England berichtet:
Apps allowing users to pray the ancient ‘Daily Office’ of morning, evening and night prayer were used 4.2 million times on Apple devices alone in the last 12 months, an increase of 446,000 on the year before, new figures show.
The figures do not include other social media prayers, reflections and posts by the Church of England, which now have an average reach of 3.6 million every month, an increase on 2018.
(Quelle: https://www.churchofengland.org/more/media-centre/news/church-engages-millions-through-apps-and-social-media)
Wenn Seelsorge die „Muttersprache der Kirche“ (Quelle: https://www.ekd.de/seelsorgekonferenz/texte/muttersprache.html) ist, dann dürfen wir sie im Digitalen Raum nicht verschweigen. Im Gegenteil. Wir sollten mit Engagement, Herzblut und viel Fehlerfreundlichkeit weitermachen und immer wieder neu loslegen. Gutes behalten, indem wir es immer wieder anpassen und weiterentwickeln. Und gleichzeitig Neues wagen, probieren, testen.
Das kann dann sein als Seelsorge im Chat und per Email mit qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im geschützten Raum. Als Zuspruch oder Begleitung und auch Bewerbung der (Offline-) Angebote auf Instagram, Snapchat, WhatsApp, Twitter,… vielleicht sogar mehrsprachig?!
Mit guter Erreichbarkeit und darum optimierten Webauftritten der Seelsorge- und (Lebens-) Beratungsangebote. Wir brauchen barrierefreie, niedrige Schwellen, weil nicht alle Menschen hohe Schwellen meistern können oder wollen. Vielleicht kann irgendwann auf diesen Seiten ein Chat angeboten werden, direkt auf der Webseite – so wie manche Firmen das machen – der unkompliziert zum ersten Kontakt/Dialog einlädt? Und dann diese Angebote auch über Sprachdienste finden lassen: Alexa, Google Home, Siri und Co
Seelsorge als (Lebens-)Begleitung mit einer App, die gleichzeitig die weiteren Angebote bündelt. Mit Blog zu Seelsorge-Themen, Webinaren, Zoom-Konferenzen, Online-Kursen, virtuellem Hausbesuch, …
So und hier macht sich Kirche dann sichtbar im Digitalen Raum mit ihrer Kompetenz der Seelsorge und Beratung. So und hier tritt Kirche in unseren Lebenswirklichkeiten auf, ist dabei, teilt sie (und sich) mit uns. Wird identifizierbar und ansprechbar, bereit zum Dialog. Die Kontaktflächen vergrößern sich. Die Erreichbarkeit steigt. Und es muss ein Nebeneinander, eine gute Vernetzung von Online- und Offline-Angeboten als gleichwertige Angebote geben. Denn in beiden Welten leben wir Menschen als gesellige Wesen, die wir sind. Und als Kirche, die die Bewegung Gottes zu den Menschen hin unter keinen Umständen aufgeben mag.
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